Quick-Fact #1:
Das Aussehen des Bandes, und wie kurz es ist, ist unwichtig. Wichtig ist, ob die Zunge all ihre Funktionen erfüllen kann.
Quick-Fact #2:
Es braucht Vorbereitung und Nachbetreuung. Ein alleiniges oder vorschnelles Durchtrennen als "Quick-Fix" ist nicht sinnvoll.
Quick-Fact #3:
Ein Umstieg auf die Flasche löst die Ursache des Still-Problems nicht.
Was ist das Zungenband?
Irgendwo, irgendwie ist bei jedem die Zunge mit dem Mundboden verwachsen: Wir sehen ein Zungen"band". Es besteht aus Schleimhaut, Faszie, manchmal auch ein wenig Muskelanteil. Hat sich diese ursprünglich flächige Verwachsung im Laufe der embryonalen Entwicklung nicht weit genug zurückgebildet, kann ein restriktives, also einschränkendes Band übrigbleiben.
Eine kleine Gedankenreise
Stellen wir uns vor, Zeige- und Mittelfinger unserer dominanten Hand wären restriktiv zusammengewachsen, also so, dass wir sie nicht voneinander unabhängig bewegen können. Das würde uns einschränken: Beim Schreiben, beim Klavierspielen, beim Knöpfe aufmachen, aber auch beim Streicheln, beim Fühlen, ... Vielleicht würden wir diesen Zustand kompensieren, indem wir es vermeiden, diese Finger überhaupt zu verwenden. Oder indem wir immer nur den Zeigefinger verwenden, sowohl motorisch als auch um zu fühlen, und den Mittelfinger nur passiv mitbewegen. Oder indem wir lernen, mit der anderen Hand zu schreiben. Oder indem wir, statt Klavier zu spielen, in einem Chor singen.
So ähnlich geht es Menschen mit restriktiven Zungenbändern:
Sie entwickeln Kompensationsmuster
Als Babies verwenden sie vielleicht ihre Lippen und Kiefer, um die Brust um Mund zu halten, weil die Zunge kein ausreichendes Vakuum bilden kann. Oder sie stillen nur ganz kurz und dafür ganz häufig, weil es für sie anstrengend wäre, länger zu stillen, weil die Zunge ja nicht so richtig mithelfen kann. Oder sie ziehen beim Trinken die Schultern hoch und machen damit den Hals kurz, damit sie den Mundboden heben können, um die Zunge weiter hoch zu kriegen - der Mundboden ist nämlich über weiches Gewebe mit einem Knochen im Hals verbunden.
Als Kinder möchten diese Menschen vielleicht lange einen Schnuller verwenden, um damit den Selbstregulationspunkt im Mund stimulieren zu können, da die Zunge nicht hinkommt. Oder sie essen nur weiche Nahrung, weil es ihnen schwerfällt, festere Stücke im Mund zu den Backenzähnen zu bewegen. Oder sie werden nachts häufig wach, weil die Zunge nicht am Gaumen anliegen kann, sondern stattdessen im Liegen in den Rachen fällt und das Hirn die Kinder "aufweckt", um wieder mehr Sauerstoff zu kriegen. Oder sie sprechen wenig, weil es anstrengend ist oder weil es ihnen unangenehm ist, dass man sie nicht versteht.
Als Erwachsene tritt vielleicht nächtliches Zähneknirschen auf, weil dadurch die von der Zunge verlegten Atemwege vergrössert werden können, und sie tragen daher eine Zahnschiene. Oder der Gaumen konnte nicht wie vorgesehen von der Zunge geweitet werden, die Zähne stehen nun zu eng aneinander und sie tragen Zahnspangen. Oder sie verwenden bei jedem Schluck Essen oder Trinken die Halsmuskulatur, um dem Mundboden mehr Spielraum zu geben, damit wiederum die Zunge weit genug hochkommt, um die Portion in den Rachen zu transportieren.
Was haben Menschen mit zusammengewachsenen Fingern und jene mit restriktivem Zungenband gemeinsam?
Die meisten würden ihr Leben prinzipiell gut meistern können. Und viele von ihnen würden ihre Potentiale besser ausleben können, wenn sie ihre Finger - oder ihre Zunge - frei bewegen könnten.
Menschen mit zusammengewachsenen Fingern werden üblicherweise nach der Geburt rasch operiert, sinnvollerweise. Falls nicht, würden sie später im Leben mit therapeutischer Hile lernen wollen, die bestmögliche Funktion zu erreichen. Und sich dann mitunter auch für eine chirurgische Trennung entscheiden. Und danach weitere Therapie benötigen, um die volle Beweglichkeit zu erlernen und alte Kompensationsmuster loszuwerden. Vielleicht bleiben diese Finger sonst weiterhin unverwendet, aus Gewohnheit.
Dasselbe gilt für Menschen mit einschränkendem Zungenband: Idealerweise würde die Einschränkung sofort nach der Geburt erkannt, operativ gelöst und geeignet nachbehandelt werden. Wird es erst später erkannt, kann man mithilfe fachkundiger Begleitung auch später noch daran arbeiten, die Einschränkungen und Kompensationen so gut wie möglich therapeutisch aufzulösen. Wird das gewünschte therapeutische Ziel nicht erreicht, kann eine chirurgische Durchtrennung des Bandes ein sinnvoller Baustein der Therapie sein. Auch hier wieder mit anschließender Therapie, um die vorher unbekannte, neue Beweglichkeit zu erlernen und alte Kompensationsmuster loszuwerden.
Babys sind klug!
Sie lernen schnell. Sie geben ihr Bestes. Ein Baby, dass "schlecht" andockt, den Mund nicht weit genug aufmacht, Lippen und Kiefer beim Stillen fest zusammenpresst, beim Stillen einschläft und kurz später wieder Hunger hat, beim Trinken akzeptiert, dass es mangels Vakuum Luft schluckt und sich nachher weinend windet, um die Luft wieder loszuwerden... all das ist ein kompetentes Baby. Ein Baby, das für die eventuell fehlende Funktion der Zunge Kompensationen gefunden hat.
Diese Kompensationen sind für den Alltag der Familie oft schwierig, können das Stillen schmerzhaft und mühsam machen, oder die Flaschenfütterung zu einem Kampf, können das optimale Gedeihen des Babies verhindern.
Was tun?
In solchen Situationen benötigt diese Familie Unterstützung durch eine Stillberaterin, die in oralen Restriktionen fortgebildet ist. Diese erhebt anamnestisch, welche Kompetenzen und Kompensationen das Baby zeigt, ob weitere Aspekte bei Mutter oder Kind ärztlich abgeklärt gehören, zeigt Wege zur Optimierung der Fütterungssituation und schlägt bei Bedarf begleitende Therapien vor. Manchmal kann das schon ausreichen, um die Situation zufriedenstellend zu bessern. Wenn nicht, ist das Baby nun gut für eine Durchtrennung des Bandes vorbereitet und benötigt danach weiterführend begleitende Beratung und Therapie, bis es gelernt hat, mit der neuen Beweglichkeit umzugehen. Und erinnern wir uns daran: Babies sind klug. Mit der Möglichkeit, die Zunge voll zu bewegen, und der richtigen Begleitung vor und nach der Durchtrennung hat es die beste Chance, all diese Kompensationen wieder zugunsten physiologischer "Muster" aufzulösen.
Weiterführende Informationen zum Thema:
Zur Autorin:
Michaela Weingant ist zertifizierte Beraterin der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft freier Stillgruppen (ÖAFS) und leitet seit 2019 eine Stillgruppe in Wien Kaisermühlen. In ihrer Beratungstätigkeit begleitet sie gemeinsam mit IBCLC Stillberaterinnen viele Familien, in denen orale Restriktionen ein Thema sind. Sie setzt sich für interdisziplinäre Vernetzung und hochwertige Aufklärung rund um dieses Wissensfeld ein.
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